Der Fall Anna Scharf – Interview mit dem Archivar Mario Tamme

Während der NS-Zeit waren Liebesbeziehungen zwischen Deutschen und Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern strengstens untersagt. Doch das heißt nicht, dass sie nicht trotzdem vorkamen. Die Landshuterin Anna Scharf verliebte sich in den französischen Kriegsgefangenen Jaques Morlat und wurde deshalb mit ihrer Freundin Martha Z., welche ebenfalls verbotenen Umgang mit Kriegsgefangenen hatte, durch die Landshuter Altstadt bis hin zum Gefängnis getrieben, wobei sie von Passanten bespuckt und gedemütigt wurde. Sie wurde zusätzlich zu einer Haftstrafe verurteilt. Zur damaligen Zeit waren solche Aktionen nicht selten. Der Archivar Mario Tamme erfuhr die Geschichte Frau Scharfs durch einen seltenen Fund von Bildern im Stadtarchiv Landshut.

Der Archivar Mario Tamme

Was weckte Ihr Interesse an dem Fall?

“Es war nicht so, dass ich mir die Beschäftigung mit dem Fall Anna Scharf ausgesucht hatte. Ich habe die Fotos zufällig in einem Konvolut von Zeitungsausschnitten gefunden. Der Fall war mir gänzlich unbekannt und die Entdeckung der Fotos schon eine kleine Sensation. Daraufhin versuchte ich, etwas über die beiden Frauen in Erfahrung zu bringen. Über das Einwohnermeldeamt konnte ich feststellen, dass Martha Z. im Jahr 2011 in einem Landshuter Altenheim verstorben war. Von Anna Scharf konnte ich nur ermitteln, dass sie Ende der 40er Jahre Landshut verlassen hatte. Ich wusste nicht, dass sie noch lebte. Den Fotofund hatte ich aber nicht veröffentlicht. Eines Tages, es war Anfang 2017, hatte mich Emanuel Socher-Jukic von der Landshuter Zeitung kontaktiert. Er hatte vom Pressesprecher der Landshuter Staatsanwaltschaft erfahren, dass eine Anna Scharf ein NS-Urteil aus dem Jahr 1942 aufheben lassen wollte. Socher-Jukic wunderte sich, dass ich von dem Fall wusste. Er schrieb über den Antrag Anna Scharfs in der LZ. Im Zuge dessen wurden die Fotos in der LZ erstveröffentlicht.”

Wie genau recherchierten Sie und gab es eventuell Schwierigkeiten bei der Informationssuche?

“Die Grundlagen für die Recherche waren sowohl die Akten der Staatsanwaltschaft, als auch die Entnazifizierungsakten im Staatsarchiv Landshut. Die Fotos fand ich aber bei uns im Stadtarchiv. Schwierig wäre nur gewesen, den weiteren Werdegang von Anna Scharf zu recherchieren. Ich wusste nur, dass sie nach dem Krieg Landshut Richtung Frankreich verlassen hatte. Eine Recherche erübrigte sich dann, als Anna Scharf im Jahr 2017 den Antrag bei der Staatsanwaltschaft Landshut stellte und dann ihre Geschichte öffentlich wurde. Es war mittlerweile sehr selten geworden, dass jemand ein Urteil aus der NS-Zeit aufheben lassen wollte.”

Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie so seltene Bilder im Archiv gefunden haben?

“Es war natürlich spannend, das Fotomaterial zu finden. Nachdem ich zuerst den weiteren Werdegang von Anna Scharf nicht kannte, wusste ich nicht, wie ich mit dem Fund umgehen sollte. Ich bin damals noch nicht an die Öffentlichkeit und hatte gewartet. Dann kam irgendwann die Anfrage von Emanuel Socher-Jukic. Das war dann der richtige Zeitpunkt für die Veröffentlichung der Fotos.”

Haben Sie sich durch Ihre Arbeit als Archivar noch mit anderen ähnlichen Ereignissen auseinandergesetzt?

“Ähnlich spannend war der Fund von Fotos mit Häftlingen des KZ-Außenlagers Landshut. Dies war auch eine kleine Sensation, so dass der BR im Januar 2014 einen Bericht in der Rundschau darüber brachte.”

Was halten Sie davon, dass Frau Scharf in ihrer Gefängniszelle „Ich sterbe für Frankreich. Ich gehe mit Jaques in den Tod.“ geschrieben hat?

“Ich glaube nicht, dass das ernst gemeint war. Es handelte sich wohl um eine jugendliche Trotzreaktion Anna Scharfs auf die erlittene Demütigung. Es half ihr sicherlich nicht und brachte ihr noch einmal drei Monate Gefängnis ein.”

Wie empfinden Sie Frau Scharf als Person?

“Ich habe Anna Scharf nicht persönlich kennengelernt und weiß nur, dass sie ein sehr bewegtes Leben gehabt hatte und mehrmals verheiratet war. Das was ihr in Landshut 1942 widerfahren ist, war natürlich furchtbar. Von dem her ist es verständlich, dass sie Landshut nach dem Krieg verlassen hatte.” 

Was denken Sie kann man vielleicht auch heute noch aus dem Fall lernen?

“Im Mittelalter gab es sogenannte “Schandstrafen”. Personen wurden für Verfehlungen an den Pranger gestellt, d.h. öffentlich auf dem Marktplatz zur Schau gestellt. Bei Anna Scharf ist das im Jahr 1942 unabhängig von den strafrechtlichen Hintergründen quasi ebenfalls passiert. Sie wurde zur Volksbelustigung bespuckt und wie Vieh durch die Altstadt getrieben. Vielleicht könnte man heutzutage gewisse Parallelen bei so mancher Hetze im Internet und in den sozialen Medien finden.”

Auch der bayerische Rundfunk schrieb über diesen Fall: https://www.br.de/nachricht/niederbayern/inhalt/kriegsgefangene-liebe-verboten-nszeit-102.html

Fotos und Bilder mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Landshut.